Manche Medikamente können alte Menschen gefährden. Das ist bekannt. Dennoch erhalten zu viele Senioren die falsche Arznei.
Liegen. Das ist Leos Lebensabend. Der 82-Jährige verbringt die Tage in seinem Bett in einem Hamburger Pflegeheim. Soll er in den Rollstuhl umziehen, leistet er passiv Widerstand. Meist mit Erfolg – er wiegt fast 100 Kilo. Leo isst seinen Teller immer leer, schafft das aber nur mit Löffel und Lätzchen. Danach dämmert er meistens weg, genau wie mitten in den wenigen Gesprächen, die er noch führt.
Sein Zustand wird schlechter. Verwandte machen sich langsam Gedanken um seine Beerdigung. In dieser Zeit bekommt Leo einen neuen ehrenamtlichen gesetzlichen Betreuer, Wolfgang Jacobsen-Gerhard. Der ist besorgt über die schläfrige Schwäche seines Schützlings. Und ihm fällt noch etwas auf: Der alte Mann bekommt zehn Medikamente, davon zwei Psychopharmaka. Nun fragt sich der Betreuer: Könnte Leos Lethargie an seinen Arzneimitteln liegen?
Ein berechtigter Verdacht. Ältere Menschen schlucken viel mehr Pillen als jüngere – und vertragen sie deutlich schlechter. „Beides hängt mit biologischen Alterungsprozessen zusammen, die den Körper einerseits anfälliger für Krankheiten und andererseits empfindlicher gegenüber Medikamenten machen“, erläutert Professor Dr. Petra Thürmann, Pharmakologin an der Universität Witten/Herdecke. Schätzungsweise 10 bis 15 Prozent der Klinikeinweisungen älterer Menschen seien durch Arzneimittel bedingt.
Priscus-Liste nennt 83 Wirkstoffe

© Stiftung Warentest

Um Senioren besser zu schützen, veröffentlichte Thürmann 2010 mit Kollegen die Priscus-Liste. Sie nennt 83 im Alter problematische Arzneistoffe, Alternativen und Schutzmaßnahmen, wenn ein Mittel für einen Patienten unvermeidbar ist. „Die Liste ist für die Ärzte kein Gesetz, aber eine wertvolle Hilfestellung“, sagt Professor Dr. Ralf-Joachim Schulz, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (Altersmedizin). Wir stellen sie vor und nennen jene alternativen Wirkstoffe, die laut Stiftung Warentest geeignet sind. Ausführliche Infos dazu stehen auch in unserem aktuellen „Handbuch Medikamente“.
Zu viele Senioren werden unsachgemäß behandelt. Das bestätigt auch eine Onlineumfrage auf test.de im Frühjahr 2013. Wir baten Menschen ab 65, uns anonym ihre aktuellen Medikamente zu nennen – und auch, wie oft und seit wann sie sie einnehmen. 996 Teilnehmer beantworteten alle Fragen. Meist handelte es sich um junge und fitte Senioren: 65 bis 75 Jahre, keine Pflegestufe. Dennoch zeigen sich bei ihnen bereits typische Probleme: von zu vielen Pillen bis zur Tablettensucht.
Halbe Erwachsenendosis reicht oft
Mediziner könnten solche Arzneimittelrisiken mildern oder ganz umgehen. „Wir müssen Ärzte und Öffentlichkeit noch mehr für das Thema sensibilisieren“, sagt Schulz. Hauptgrund der Gefahren: Medikamente wirken im Alter anders und meist stärker. Start low – go slow, lautet daher eine wichtige Regel für Ärzte, wenn sie Senioren Medikamente verordnen. Das heißt: Starte in niedriger Dosis und erhöhe sie, wenn notwendig, langsam – meist mit Kontrollterminen. „Insgesamt reicht oft die halbe Erwachsenendosis“, sagt Thürmann.
Die stärkere Wirkung liegt oft daran, dass Organe im Alter langsamer arbeiten, besonders die Niere. „Viele Arzneimittel werden nicht mehr so schnell ausgeschieden, üben also länger und stärker Effekte aus“, erklärt Thürmann. Ferner würden Angriffspunkte empfindlicher, vor allem im Gehirn. Dort entstehen auch oft Nebenwirkungen wie Schwindel, Benommenheit, Schlafstörungen, Unruhe, Verwirrung, gedämpftes Denken und Erinnern – bis zur Demenz. Zudem erhöhen viele Medikamente die Gefahr zu stürzen. Das wiederum führt leicht zu Komplikationen: Altersbedingt eher morsche Knochen brechen leicht und heilen schwer. Viele Nebenwirkungen seien doppelt tückisch, sagt Schulz. „Sie verstärken typische Altersleiden und werden oft damit verwechselt.“
Auch über den immermüden Leo sagen seine Pfleger: „Er ist eben nicht mehr der Jüngste, und er leidet ja auch an Depressionen und Demenz.“ Damit findet sich Betreuer Jacobsen-Gerhard nicht ab. Er verfolgt seinen Verdacht, recherchiert zu Leos Arzneimitteln. Das Ergebnis der Detektivarbeit: Die Psychopharmaka können stark dämpfen – und das Körpergewicht erhöhen. Jetzt ist der Betreuer gewiss: Diese beiden Medikamente sind schuld an Leos Zustand.
„Nebenwirkungen und Überdosierungen sind bei jedem Medikament denkbar und die Symptome vielfältig“, weiß Thürmann. Doch einige Mittel können im Alter besonders schaden. Sie stehen in der Priscus-Liste. Priscus heißt auf Latein altehrwürdig. Die Liste stützt sich auf ähnliche Kataloge aus anderen Ländern, etwa aus den USA, berücksichtigt aber, welche Medikamente in Deutschland erhältlich sind und oft verordnet werden.
Falsche, zu viele, interaktive Pillen
Jeder zehnte Teilnehmer unserer Umfrage schluckt problematische Arzneimittel von der Priscus-Liste (siehe Fall 3). Laut anderen Studien betrifft das sogar etwa jeden vierten Senior. Meist werten diese Analysen Krankenkassendaten aus, erfassen also – anders als unsere Umfrage – auch hochbetagte und pflegebedürftige Menschen. „Diese Gruppen bekommen erfahrungsgemäß besonders oft Priscus-Medikamente“, so Thürmann.
Es gelte grundsätzlich die Faustregel: „Je älter oder gebrechlicher ein Mensch, desto mehr Tabletten schluckt er.“ Gut jeder dritte der von uns Befragten nimmt fünf und mehr Medikamente. 10 Prozent bekommen sogar acht und mehr (siehe Fall 1).Andere Studien zeichnen ein ähnliches Bild. „Manchmal sind viele Medikamente unumgänglich“, betont Schulz. „Aber Ärzte sollten möglichst zurückhaltend verordnen. Mit jedem Präparat steigt das Risiko für Wechselwirkungen.“ Diese bremsen dann erwünschte Arzneimitteleffekte aus oder kurbeln unerwünschte an – eine weitere Gefahr (siehe Fall 2).
Wer behält den Überblick?
Erschwerend kommt hinzu: Patienten beziehen ihre Rezepte oft von mehreren Ärzten und kaufen in der Apotheke auch noch Medikamente in Eigenregie. Wer behält da den Überblick? Nur etwas mehr als die Hälfte der Umfrageteilnehmer gab an, ihr Hausarzt habe in den vergangenen zwölf Monaten mit ihnen über ihren Medikamenten-Mix gesprochen – anders als empfohlen, und obwohl Hausärzte auch für alte Patienten eine Lotsenfunktion ausüben.
Ferner könnten Apotheken helfen. Doch nur 19 Prozent der Befragten gaben an: Sie wurden, als sie in ihrer Stammapotheke zuletzt ein neues Rezept einlösten, zu Wechselwirkungen mit ihren anderen Medikamenten informiert.
Tipp: Bitten Sie als Patient aktiv um Beratung. Schreiben Sie dafür alle Medikamente auf, auch rezeptfreie (siehe Tipps). Hausärzte sollten den Gesamtcocktail einmal jährlich kontrollieren. Die wichtigste Frage: Sind alle Arzneimittel (noch) erforderlich? Viele werden wegen einer bestimmten Krankheit angesetzt – und nach deren Verschwinden nie wieder abgesetzt.
Jahrelang immer wieder neue Rezepte
So auch beim schlappen Leo. „Es gab diese Automatismen“, sagt Betreuer Jacobsen-Gerhard. „Die Psychopharmaka gingen zur Neige, eine Pflegekraft rief bei der Neurologin an, und die schickte ein neues Rezept. Keiner hinterfragte, ob Leo die Mittel wirklich noch benötigt.“
Ursprünglich brauchte er sie. Leos Frau und seine Söhne waren binnen weniger Jahre verstorben, er saß allein im Altersheim, konnte die Trauer wohl nicht verarbeiten. 2005 erlitt er eine Psychose mit wilden Wahnvorstellungen. Seither bekam er die Psychopharmaka. Sie vertrieben die Halluzinationen. Die Lebensfreude brachten sie nicht zurück.
Alte Menschen leiden oft an psychischen Beschwerden. Das liegt manchmal an altersbedingten Veränderungen im Gehirn. „Zudem sind viele Senioren einsam oder trauern um verstorbene Freunde, Verwandte oder Partner“, meint Schulz. Er empfiehlt, selbst wenn das erst einmal schwerfällt, das Gegenteil von Rückzug: „Sozialkontakte tun Senioren unglaublich gut, sei es das Kaffeekränzchen, die Sportgruppe oder einfach Zuwendung.“ Hier sieht Schulz wichtige Aufgaben für Verwandte, Pfleger, Nachbarn, Ehrenamtler.
Oft kommen Helfer in Pillenform zum Einsatz, weil Betroffene, Angehörige oder Pfleger nicht weiterwissen. „So ist bekannt: Je weniger Personal im Altersheim, desto mehr Psychopharmaka“, stellt Thürmann fest. Die Mittel sind aber nebenwirkungsreich, sie füllen fast die halbe Priscus-Liste.
Vom Heilmittel zum Suchtmittel
Dort stehen allein 18 Benzodiazepine und 3 „Z-Drugs“ – Beruhigungsmittel, deren Name mit „Z“ beginnt . Diese Medikamente helfen beim Schlafen, lindern Angst und Unruhe – und machen süchtig. Etwa 1,5 Millionen Abhängige leben in Deutschland, meist ältere Frauen. Auf Dauer tun die vermeintlichen Heilmittel oft nicht gut. Mediziner sollen sie höchstens kurz verordnen und Abhängige zum Entzug motivieren. Dabei wird die Dosis unter ärztlicher Aufsicht schrittweise verringert (siehe Fall 4).
Ähnlich wurden auch Leos Psychopharmaka abgesetzt. Sein Betreuer hat das erreicht, auch gegen Widerstände. Leos Neurologin fand ihn „so gut eingestellt“, ließ sich aber überzeugen. Über Monate senkte sie die Medikamentendosis auf null, die Pfleger achteten auf Verschlechterungen. „Es gab aber nur Verbesserungen“, berichtet Jacobsen-Gerhard. Leo lag bald nicht mehr nur im Bett. Er lernte sogar laufen mit dem Rollator – auch dank viel Training –, wusch und rasierte sich wieder selbst, aß mit Messer und Gabel. Er wollte zu jeder Veranstaltung im Heim, die Verwandten besuchen, diskutierte über Sport und Politik. Depression und Demenz: kein Thema mehr.
„Wir waren alle begeistert“, bestätigt auch Leos langjähriger Pfleger. „Es lohnt sich, wenn Angehörige, Betreuer oder Pfleger bei Senioren auf Nebenwirkungen von Arzneimitteln achten.“ Leo starb 2012 – mit fast 87, vier Jahre, nachdem die Ärztin die Medikamente abgesetzt hatte. Sein letztes Stück Lebensabend, da sind sich Betreuer wie Pfleger sicher, war hell.
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Mehrfach wurde in verschiedenen Medien Berichte daraufhin gewissen dass
all zu häufig ältere Menschen mit Medikamenten vollgestopft werden, was oft Nachweislich mehr Schaden als Nutzen hat. Man weis es, doch wo bleiben die Konsequenzen ?
Patient/Pflegeperson darf sich nicht alles gefallen lassen. Wenn man den Sinn einer Verordnung nicht einsieht, muss man nein sagen. Arzt verordnete auch ohne entsprechender Diaknose, lediglich auf Verlangen der Angehörigen wie in einem Autentischen Fall geschehen.Bei nicht zutreffender Inkontinenz und Natürlichen Harndrang nach 4-6 Std. lediglich näßte sich der alte Mann beim Toiletten Gang ein.Arzt verordnete Vesikur 5mg was als bald die möglichen im Beipackzettel Beschriebenen Nebenwirkungen zeigte, doch diese wurden durch Angehörige verbohrt ignoriert, selbst der Hinweis im Beipackzettel sofortiger Abbruch bei Atemprobleme, beachtete niemand. Folge Lungenembolie, Lungenentzündung, Thrombose.
im WDR wurde bereits eine entsprechende Sendung ausgestrahlt (2011 oder 2012). Es wurde gezeigt, wie die alten Menschen mit Medikamenten vollgestopft werden und welche Folgen dies hatte.
Ein Fall wurde besonders gezeigt. Hier wurden einer alten Frau 13 Medikamente zeitgleich verordnet bis sie total verwirrt etc. war. Nach einem Arztwechsel konnte die Medikamentation auf (ich glaube) 6 Medikamente heruntergefahren werden.
Konsequenzen wurden bis heute nicht gezogen :(((
Vielen Dank für Ihren ausführlichen Erfahrungsbericht. Ihre Ratschläge im Umgang mit Medikamenten, Ärzten und Pflegepersonal können für vielen Lesern sicher eine gute Hilfestellstelung sein. (BP)
Auch Ärzte und Apotheker machen Fehler und übersehen ab und an Dinge. Am besten ist an der Stelle immer noch der eigene Verstand mit dem man im Netz auch mal Medikamente nachschauen kann oder die Packungsbeilage zum Lesen.
2. Hartnäckigkeit
Man kann nicht davon ausgehen, dass Ärzte/Apotheke sich an individuelle Besonderheiten des Patienten erinnern. Patient/Pflegeperson müssen immer dran bleiben, hartnäckig nachfragen und informieren. Von sich aus bieten das die Beteiligten nicht an, das muss man einfordern oder - noch besser - einfach machen! Mir ist bewusst, dass das für Alte, die keine Angehörigen haben, quasi nicht umsetzbar ist.
3. gute Ärzte
Gute Ärzte muss man sich erarbeiten. D. h. im Zweifelsfall wechseln! Meine Mutter hat mittlerweile eine Hausärztin mit Schwerpunkt Geriatrie. Es ist nur dem Schicksal zu verdanken, dass die Fehler, die Ärzte bei meiner Mutter gemacht haben, glimpflich ausgegangen sind. Und es waren einige gravierende.
4. Nein-Sagen
Patient/Pflegeperson darf sich nicht alles gefallen lassen. Wenn man den Sinn einer Verordnung nicht einsieht, muss man nein sagen. Ärzte verordnen den Standard, erst beim Nein denken sie nach, wägen ab, gehen individuell auf den Patienten ein.