
Mobil. Manfred Scharbach ist blind. Via App erfährt er auf seinem iPhone, wo er sich gerade befindet. Er bekommt die Info durch einen Knochenleitkopfhörer übertragen. Auf diese Weise bleiben seine Ohren frei. Das ist wichtig, um auf den Verkehr zu achten. © Lox Foto
Wege finden, Texte vorlesen, Gegenstände erkennen: Apps für Sehbehinderte und Blinde verheißen Erstaunliches. Die Stiftung Warentest hat zehn Apps für Smartphones getestet – zumeist für die Betriebssysteme Android und iOS. Erfreuliches Ergebnis: Viele Apps sind tatsächlich hilfreich. Übrigens: Das PDF zu unserem Artikel ist barrierefrei, und Sie können den Test auch im ePub-Format lesen.
App lotst Blinde bis ans Ziel
Rechts ein Restaurant, schräg links die Bushaltestelle, in 30 Metern die Kreuzung Koenigsallee/Fontanestraße. Manfred Scharbach sieht all das nicht – aber er hört es. Ein Programm auf seinem iPhone, eine App, sagt es dem blinden Berliner, übermittelt durch einen Kopfhörer. Mit seinem weißen Stock erkundet er zusätzlich langsam-streichend das Terrain. Andere Hilfsmittel braucht er nicht. Die App lotst ihn zum Ziel.
Wichtigstes Kriterium: Barrierefreiheit
Sicher durch die Stadt schlendern, Gegenstände erkennen, Gedrucktes vorgelesen bekommen: Das und mehr verheißen Apps für sehbehinderte und blinde Menschen. Ist auf die mobilen Computerprogramme Verlass? Erfreuliches Fazit des Tests: Ja, viele erweisen sich tatsächlich als hilfreich. Wir haben zehn geprüft, die meist auf Smartphones mit den Betriebssystemen Android oder iOS laufen. Wir achteten auf Vielseitigkeit, Transparenz und Datensendeverhalten.
Herzstück des Tests mit dem Löwenanteil der Bewertung war Barrierefreiheit, also Nutzerfreundlichkeit für Blinde und Sehbehinderte. Unter anderem erprobten je fünf Blinde und Sehbehinderte jede App, die für sie infrage kam. Im Test galt es, vorgegebene Aufgaben zu lösen.
Verkehrskegel erkannt
Beispiel TapTapSee: Die App dient dazu, Objekte zu erkennen, die der Nutzer mittels Smartphone-Kamera ablichtet. Unsere Probanden erprobten, eine Dose Cola und einen Verkehrskegel korrekt zu identifizieren. Das klappte in allen Fällen. Auch die anderen Apps im Test funktionierten. Manche fallen enorm positiv auf.
Mehr am Leben teilhaben
„Apps haben meine Möglichkeiten enorm erweitert“, sagt Manfred Scharbach. Er ist Geschäftsführer des Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenvereins Berlin und stieß vor allem berufsbedingt auf die neuen Möglichkeiten. „Das Thema wurde bei uns in der Selbsthilfe immer wichtiger“, sagt er. „Vor etwa fünf Jahren habe ich mir das Geld ans Bein gebunden, ein iPhone gekauft – und lernte sehr schnell die Segnungen zu schätzen.“
Apps oft praktischer als Navigations- oder Lesegeräte
Manche Anwendungen ließen sich auch mit herkömmlichen Navigations- oder Lesegeräten abdecken. Doch seien sie häufig sperrig und teuer – Smartphone-Apps hingegen oft gratis und praktischerweise auf einem Gerät vereint. „Apps erhöhen die Teilhabe enorm“, findet Heinz Mehrlich, selbst sehbehindert, begeisterter Smartphone-Nutzer und aktiv in der Selbsthilfe. Doch die Anforderungen an die Apps unterschieden sich, abhängig von der konkreten Einschränkung.
Vorhandenes Sehvermögen nutzen

Vergrößert. Diese App fungiert als Lupe für Gegenstände vor der Smartphone-Kamera. © Stiftung Warentest
Diverse Gründe können zu Sehbehinderung oder gar zur Erblindung führen, darunter Augenleiden wie grüner und grauer Star, Netzhautschäden infolge der Zuckerkrankheit Diabetes oder der altersabhängigen Makuladegeneration (AMD). (Dazu auch unsere Untersuchung Sehkraft erhalten, Makuladegeneration bekämpfen – was hilft?, test 2/2016.) Viele dieser Probleme mehren sich mit zunehmendem Alter. Im Zuge der demografischen Entwicklung könnte die Zahl Betroffener steigen. Derzeit leben laut Schätzungen etwa 200 000 Blinde und 1,2 bis 1,5 Millionen Sehbehinderte in Deutschland. „Sehbehinderte haben ein Restsehvermögen und wollen das auch nutzen“, sagt Mehrlich. „Sie verwenden Smartphones oft ähnlich wie Normalsichtige – indem sie mit den visuellen Hilfen auf dem Display arbeiten.“
Tipp: Hilfreich bei Sehbeeinträchtigungen sind ein großes Display, eine große Schrift und starke Kontraste.
Blinde brauchen die Sprachausgabe

© Stiftung Warentest
Solche Maßnahmen nützen Blinden wenig. Sie sehen höchstens einen Bruchteil dessen, was ein Normalsichtiger erkennt. Die Sprachausgabe ist unabdingbar. Die Funktion heißt bei iOS-Geräten von Apple „VoiceOver“, bei Android-Handys zum Beispiel „TalkBack“. Sie ist bereits im Betriebssystem verankert und lässt sich ein- und abschalten. Sich damit vertraut zu machen, kostet Zeit, Geduld und Übung.
Hilfreich. Die Sprachausgabe – beim iPhone heißt sie „VoiceOver“ – liegt unter „Bedienungshilfen“. Diese finden sich unter den Einstellungen. Dort sind zudem Hilfen für Sehbehinderte wie „Größerer Text“ oder „Kontrast erhöhen“. Auch Android-Geräte bieten entsprechende Einstellungen.
Die Stimme lotst durchs Menü
Manfred Scharbach hat inzwischen viel Erfahrung. Er holt sein iPhone aus der Tasche – für ihn nur eine glatte Platte ohne jegliches Sichtsignal. Um die Sprachausgabe zu demonstrieren, zieht er einen Finger über das Display, zügig und rhythmisch, immer wieder. Jedes Wischen führt zu einer neuen Funktion, die er angesagt bekommt: „Nachrichten.“ „Kalender.“ „Kontakte.“ Es ertönen auch Instruktionen wie „Zum Öffnen doppeltippen“. Die Stimme klingt weiblich, etwas blechern, sie ist ziemlich schnell – wer sie nicht kennt, den kann sie durchaus stressen. „Das gibt sich“, grinst Scharbach.
App-Anbieter vergessen oft die Bedürfnisse von Sehbehinderten
Er nutzt dank Sprachausgabe und der gleichfalls auf Smartphones vorhandenen Spracheingabe sogar Allerwelt-Apps, versendet Mails und SMS, wischt sich durch Fahrplaninfos, Nachrichtenportale und den Wassersportwetterbericht. Er segelt gern. Mit sehenden Mitstreitern geht das. Allgemeine Apps helfen ihm nur, wenn Hersteller bei der Gestaltung die Anforderungen von Blinden und Sehbehinderten bedenken. „Das passiert längst nicht immer.“
Tipp: Viele Blinden- und Sehbehindertenvereine bieten Schulungen für Smartphone-Neueinsteiger an. Teils gibt es dort auch die Möglichkeit, herkömmliche Hilfsmittel wie Lupen oder Lesegeräte mit Apps zu vergleichen.
Eine App punktet besonders
Viele geprüfte Apps machen Nutzern die Bedienung leicht. Besonders positiv sticht die Texterkennungs-App KNFB Reader für 100 Euro heraus. Als Einzige im Test ist ihre Eignung durchweg hoch – für Blinde wie für Sehbehinderte, für iOS wie für Android. Die Apps zum Navigieren, zum Erkennen von Gegenständen und die Hörbuch-App Audible schneiden nur bei manchen Nutzergruppen oder Betriebssystemen so gut ab.
Vier Apps mit kritischem Datensendeverhalten
Bei der Android-Version von vier Apps bewerten wir das Datensendeverhalten als kritisch: bei Barcoo, KNFB Reader, Kuubus sowie Lupe + Licht. Sie übermitteln unnötigerweise eine Gerätekennung, die das Smartphone eindeutig identifiziert. Zwei dieser Apps bedienen einen US-amerikanischen Profi-Datensammler. Bei vier iOS-Apps – Audible, Barcoo, BlindSquare, TapTapSee – konnten wir den Datenverkehr nicht vollständig entschlüsseln.
iOS versus Android
Die geprüften Apps Audible und Barcoo eignen sich für Blinde auf dem iPhone besser, für Sehbehinderte auf Android-Geräten. Zwischen den Betriebssystemen gibt es Unterschiede, sagen Scharbach wie Mehrlich: Android punkte bei Vergrößerungsfunktionen für Schrift, iOS bei der Sprachausgabe. Scharbach findet es zudem hilfreich, dass alle iPhones grundsätzlich gleich funktionieren. Unterschiede der Benutzeroberfläche je nach Hersteller wie bei Android gibt es nicht. Nur Apple stellt iPhones her. „Allerdings haben sie ihren Preis.“ Scharbach möchte seine Anschaffung nicht missen – „vor allem, wenn ich etwas regeln will oder auf mich gestellt bin“. Oft jedoch nutzt er eine andere Hilfe, die für ihn das Sehen übernimmt, ihn in allen Lebenslagen stützt und jedes Smartphone in den Schatten stellt: seine Frau.
Barrierefrei im Netz
Diesen Artikel gibt es auch in einer ePub-Version, die Sie hier herunterladen können.
-
- Starkes Sonnenlicht kann im Winter die Augen schädigen – und das nicht nur in den Bergen und bei Schnee. Auch im schneefreien Flachland reflektieren die UVA- und...
-
- Servicestellen vermitteln innerhalb von zwei Wochen einen Termin zur Akutbehandlung beim Psychotherapeuten. Hier erfahren Sie, in welchen Fällen Ihnen geholfen wird.
-
- Augen- und Nasentropfen sowie Nasensprays enthalten häufig Konservierungsmittel – nicht ohne Grund: Denn beim Sprühen oder Tropfen kommen Spraydüse oder Pipette leicht...
Diskutieren Sie mit
Nur registrierte Nutzer können Kommentare verfassen. Bitte melden Sie sich an. Individuelle Fragen richten Sie bitte an den Leserservice.
Nutzerkommentare können sich auf einen früheren Stand oder einen älteren Test beziehen.
@hyppo: Vielen Dank für Ihren ergänzenden Testvorschlag verbunden mit dem Wunsch nach einem Folgetest, den wir gerne an die Fachredaktione weiterreichen. (bp)
Bitte auch Diktiergeräte (bzw. Diktierfunktionen) mit einbeziehen.
Der als sehr gut beschrieben KNFB-Reader bekommt auf den Shop-Seiten sehr schlechte Rezensionen.
Kaum in Kreisen der Sehbehinderten bekannt ist die App "Locus Maps". Sie basiert auf lizenzfreien Karten von Open Street Map, die lokal gespeichert werden können, also auch ohne Internet-Verbindung verfügbar sind. Karten gibt es weltweit. Die Navigation lässt sich für Auto, Fahrrad und Fußgänger einrichten und funktioniert auch noch, wenn die Internetverbindung abreißt. Die Fußgänger-Navigation ist der von Google Maps weit überlegen, weil jedenfalls in Deutschland selbst Parks und Waldwege kartografisch erfasst sind und in der Navigation genutzt werden. Die Qualität reicht an die von sehr viel teureren Wander-Navigationen.
Die Pro-Version für 8,50 Euro bietet eine sehr gute Sprachausgabe. Ich bin damit hoch zufrieden. Für die wenigen Euro kann jeder, der im Sehen eingeschränkt ist, selbst herausfinden, ob "Locus" nützt.
Nach aussagen vieler Nutzer ist dieser App sehr nutzvoll!
Der Hersteller ist eine Slowenisch-Englische Firma EqualEyes.