
Auszeit. Angehörige sollten sich ausreichend Freizeit gönnen.
Ist ein Familienmitglied psychisch krank, belastet das auch die Angehörigen sehr. Immerhin leidet im Laufe eines Jahres jeder dritte Deutsche zumindest zeitweise an einer psychischen Erkrankung, beispielsweise einer Angststörung oder Depression. Angehörige erleben die Auswirkungen der Erkrankung hautnah mit. test sagt, wie sie sich davor schützen, selbst zu erkranken, und wo sie Hilfe finden.
Sozialpsychiatrischer Dienst kam zu Hilfe
Es ist Weihnachten, als Marianne Schumachers Telefon nicht mehr aufhört zu klingeln – jede halbe Stunde. In der Leitung: Ihr Sohn, der sie wüst beschimpft. Sie solle doch endlich zugeben, dass sie ihn schon als Kind vom Balkon werfen wollte. Auch andere Familienangehörige erhalten in diesen Tagen solche Anrufe. Der junge Mann Mitte 20 sagt, er fühle sich verfolgt. Er droht, Gegenstände aus dem Fenster seiner Wohnung im fünften Stockwerk zu werfen. Spricht von weißen Männern, die ihn einfangen werden. Seine Worte ergeben für Marianne Schumacher kaum Sinn. Schließlich bittet sie den Sozialpsychiatrischen Dienst um Hilfe. Zu groß ist die Angst, dass sich ihr Sohn in seiner Aufregung etwas antun könnte. Die Mitarbeiter des Dienstes besuchen ihn und überreden ihn, mit in eine Klinik zu kommen. Dort wird festgestellt: Der junge Mann hat eine Psychose, ausgelöst durch eine Mischung aus Ecstasy und Cannabis. Von diesem Trip ist er nicht zurückgekehrt. Seit nun über 15 Jahren lebt Marianne Schumachers Sohn mit Wahngedanken, verweigert aber medizinische Hilfe. Heute ist er in den 40ern. Er lebt allein, ohne spezielle Betreuung.
Partner, Kinder, Eltern oder Geschwister sind Mit-Leidtragende
Im Laufe eines Jahres leidet etwa jeder dritte Deutsche zumindest zeitweise an einer psychischen Erkrankung – wie etwa einer Angststörung, Depression oder Psychose. Lange bevor Betroffene professionelle Hilfe zur Behandlung ihrer Beschwerden in Anspruch nehmen, erleben Partner, Kinder, Eltern oder Geschwister die Auswirkungen der Erkrankung hautnah mit. So wie Schumacher als betroffene Mutter. Sie ist eine von mehr als 30 Millionen in Deutschland, die das Leid eines nahestehenden Menschen mitträgt. Dennoch spielen Schumacher und die anderen Angehörigen psychisch Erkrankter bisher in der Gesundheitsversorgung kaum eine Rolle.
Lange galten Angehörige als Mitverursacher
„Noch vor 20 Jahren galten Angehörige sogar als schwere Komplikation in der Behandlung, bei manchen Erkrankungen als Mitverursacher“, sagt der Psychiater Norbert Mönter. Er ist Mitglied im Beirat des Landesverbands Angehörige psychisch Kranker Berlin. Heute wisse man, dass das großer Unsinn sei. Studien hätten sogar gezeigt: Angehörige, die gut über die Erkrankung aufgeklärt werden, können allein durch ihre alltägliche Hilfe das Risiko für eine neue Krankheitsphase erheblich reduzieren, hebt Mönter hervor. Viele Kliniken bieten inzwischen Informationsveranstaltungen für Angehörige an. In der Psychoedukation lernen sie Ursachen und Auswirkungen der Erkrankung kennen. Sie sollen Sicherheit im Umgang mit den Betroffenen bekommen. „Diese Informationen nehmen ihnen viel Last von den Schultern. Angehörige verstehen so besser, warum ihr Familienmitglied sich in bestimmter Art verhält und dass sie dafür nicht verantwortlich sind“, sagt der Psychiater Andreas Bechdolf, Chefarzt der Berliner Vivantes Kliniken für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik.
Krisenplan gemeinsam erstellen
Am Ende einer stationären Behandlung besprechen er und seine Kollegen gemeinsam mit Patient und Angehörigen, wie es weitergeht. Sie erstellen einen Krisenplan. Sie halten fest, woran sie erkennen, dass Symptome wiederkehren und was dann zu tun ist. Hier hat sich viel getan. Schumacher zum Beispiel erinnert sich, dass niemand aus der Klinik sie anrief, um ihr zu sagen, wo ihr Sohn untergebracht ist. Sie musste viele Telefonate führen, um das herauszufinden. Als sie ihren Sohn dann in der Klinik besuchte, empfing sie kein Arzt oder Pfleger, um mit ihr die Situation zu besprechen. Auch danach hatte der behandelnde Arzt keine Zeit für ein Gespräch mit ihr, nicht mal am Telefon.
Ungefähr jeder zweite Angehörige wird selbst krank
Angehörige brauchen nicht nur Informationen, sondern vor allem eine Stütze. Viele engagieren sich so stark für ihr Familienmitglied, dass sie ihre eigene Gesundheit aus den Augen verlieren. Sie erkranken selbst psychisch oder sind anfälliger für körperliche Beschwerden wie Bluthochdruck. Experten schätzen: 40 bis 60 Prozent aller Angehörigen eines psychisch Kranken haben durch die Belastung selbst Krankheiten entwickelt. Untersuchungen haben ergeben, dass jeder zweite Lebensgefährte eines depressiv Erkrankten nach einiger Zeit selbst depressive Symptome zeigt.
Schuldgefühl verschlimmert Situation

„Ich hoffe, dass mein Sohn und ich eines Tages wieder miteinander sprechen“. Marianne Schumachers Sohn lebt seit 15 Jahren mit Wahngedanken.
„Angehöriger sein sollte nicht zum Beruf werden“, sagt Norbert Mönter. Sich Freizeit gönnen, in eine Selbsthilfegruppe gehen, sich beraten lassen oder die eigene Situation mit einem Psychologen oder Psychiater durchsprechen, auch mal zur Kur fahren, wenn die Kraft nachlässt: Das empfiehlt er zum Ausgleich und zur Entlastung. „Denn merkt der Kranke, dass es dem Angehörigen seinetwegen nicht gutgeht, entwickelt er Schuldgefühle und wird kränker. Das wiederum belastet die Angehörigen noch mehr“, sagt Marianne Schumacher. Ein Teufelskreis entstehe, in dem sich beide Seiten in die Tiefe ziehen.
Auch mal Nein sagen
Sie rät, auch mal Nein zu sagen, nicht den Theaterbesuch abzusagen, weil der Sohn anruft und sich für einen Besuch anmeldet. „Wenn der Betroffene merkt, es geht den Angehörigen gut, ist auch er entlastet und strengt sich womöglich mehr an, seine Situation zu verbessern“, sagt Schumacher.
Austausch mit Betroffenen wichtig
Auch sie hat sich Hilfe gesucht: im Verband Angehöriger psychisch Kranker (Kontakt siehe Recht und Hilfe), der sie damals auffing. Für den engagiert sich Schumacher jetzt selbst, berät betroffene Familien, leitet mehrere Selbsthilfegruppen. Vor mehr als zehn Jahren hat sie sich erstmals selbst in einer Selbsthilfegruppe ausgesprochen. Darüber, wie viel Angst sie um ihren Sohn hat, wie erschütternd der Besuch in der Psychiatrie war, dass ihr Sohn sie aus seinem Leben verbannt hat und sie nur durch ihren jüngeren Sohn weiß, dass und wie er lebt. Dass er Spaghetti über dem Teelicht kocht und Kuchen in der Pfanne backt, dass er versucht, zurechtzukommen. „Ich habe mir für das Leben meines Sohnes etwas anderes gewünscht“, sagt Marianne Schumacher. Sie hofft, dass er glückliche Momente erlebt – und sie eines Tages wieder miteinander sprechen.