
Risiko. Übergewicht belastet nicht nur den Körper – oft auch die Seele.
Starkes Übergewicht kann seelische Ursachen haben – und wiederum selbst die Psyche stark belasten. Warum und wie eine Psychotherapie beim Abnehmen helfen kann.
Adipositas hängt mit der Seele zusammen
Spricht der Mediziner Martin Teufel über krankhaftes Übergewicht, zeigt er eine Grafik mit zwei Linien. Eine zeigt die Stimmung eines Patienten, die andere Linie sein Gewicht. Immer wenn das Wohlbefinden dieses Patienten abfiel, stieg sein Gewicht – über Jahrzehnte.
Der Direktor der Klinik Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am LVR-Klinikum Essen veranschaulicht mit dieser Grafik: Adipositas ist ein körperliches Problem, hängt aber stark mit dem Seelenzustand zusammen. Psychotherapie ist deshalb ein wichtiger Baustein, um wieder gesund zu werden. Sie kann den Betroffenen helfen, gesünder zu leben: Essanfälle zu zügeln, Motivation zu gesundem Essverhalten herstellen und zu lehren, mehr Bewegung in den Alltag integrieren, Selbstwertprobleme anzugehen. Die Krankenkassen zahlen dafür aber oft nur teilweise (Was die Kassen bezahlen).
Von WHO als Erkrankung eingestuft
Die Zahl der Menschen mit Adipositas nimmt stetig zu. In Deutschland ist schon jeder vierte Erwachsene fettleibig, so eine Erhebung der OECD vom Oktober 2019. Entscheidend für die Einordnung ist der Body-Mass-Index (BMI), das Verhältnis von Gewicht zu Körpergröße. Ab einem BMI von 30 spricht man von Adipositas. Für eine 1,80 Meter große Person gilt das, wenn sie gut 97* Kilogramm oder mehr wiegt. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat Adipositas als chronische Erkrankung eingestuft, sie gilt zudem als Risikofaktor für Bluthochdruck, aber auch für psychische Probleme.
„Keine reine Willenssache“

Gemeinsam. So fällt Bewegung leichter und macht mehr Spaß als allein.
„Adipositas ist keine ausschließlich psychische Erkrankung, dennoch gibt es viele psychologische Faktoren, die sie mitbedingen können“, sagt Ernährungsmediziner Thomas Huber von der Klinik am Korso in Bad Oeynhausen. Essen habe für viele eine Funktion über Sättigung hinaus, etwa Trost spenden bei Frust. Bei Übergewichtigen sei diese Funktion oft außer Kontrolle geraten.
„Abnehmen ist keine reine Willenssache, die Gene haben ihren Einfluss. Ein unausweichliches Schicksal stellt Übergewicht aber auch nicht dar“, betont Huber. Die Behandlung ruht auf mehreren Säulen (Adipositas behandeln: Die Kombi machts), zu denen auch die Verhaltenstherapie gehört. Sie basiert auf der Idee, dass ungute Verhaltensweisen und Gedankengänge erlernt sind. Ihr Ziel ist es, ungünstige Muster in Handeln und Denken zu verlernen und dafür neue zu etablieren. So übt man mit den Patienten etwa, regelmäßige Mahlzeiten einzuhalten. Das ist für viele schon eine neue Handlungsweise.
Abnehmen – setzen Sie sich realistische Ziele
Eine erste Aufgabe sind realistische Ziele. Weniger die Kilogrammzahl stehe im Vordergrund, sondern alltägliche Dinge verrichten zu können, sagt Martin Teufel. „Ich hatte eine schwer adipöse Patientin. Ihr Wunsch war es, wieder ohne Atemnot Treppen steigen, sich die Schuhe binden oder ohne Engegefühl im Gartenstuhl sitzen zu können.“ Solche lebensnahen Ziele seien hilfreicher als unrealistisch hohe und oft frustrierende Kilo-Ziele.
„Wir regen Patienten dazu an, sich selbst zu beobachten, zu prüfen, in welchen Situationen essen sie, was und wie viel“, sagt Professorin Anja Hilbert vom Integrierten Forschungs- und Behandlungszentrum Adipositas-Erkrankungen der Universitätsmedizin Leipzig. „Wenn sie erkennen, welche Umstände bei ihnen zum Beispiel emotionales Essen auslösen, dann können sie lernen, kritische Momente rechtzeitig zu bemerken und standhaft zu bleiben.“
Diese praktischen Maßnahmen helfen
Dabei helfen praktische Maßnahmen: Zum Beispiel nicht mehr große Mengen an hochkalorischen Nahrungsmitteln im Kühlschrank zu lagern, damit sie für einen Essanfall gar nicht erst zur Verfügung stehen. Regelmäßige Mahlzeiten helfen, um nicht in einen Essanfall zu geraten.
Manche Adipöse neigen dazu, negative Gefühle mit Essen besänftigen zu wollen. In der Therapie üben sie, Stress, Wut oder Trauer nicht mit Nahrung zu bekämpfen, sondern mit anderen Methoden – ausgleichenden Aktivitäten wie Sport oder Entspannungsübungen. Patienten lernen auch, Ärger nicht mit sich selbst auszumachen, sondern Probleme anzusprechen, um nach Lösungen zu suchen.
Gleichzeitig üben sie, sich anders als mit Essen zu belohnen. Therapeuten besprechen mit den Patienten, welche Dinge ihnen wirklich Freude bereiten. Die können dann als Motivation dienen, eine Alternative zu Essen sein und die Aktivität steigern. „Immer, wenn jemand es geschafft hat, etwas durchzuhalten, zum Beispiel in einer Woche jeden Morgen ein geregeltes Frühstück zu essen, dann kann er sich dafür auch belohnen, etwa mit einem Kinobesuch, einem neuen Buch oder einem Flohmarktbummel“, erläutert Hilbert.
Psychische Krankheit geht vor
Solche Strategien vermitteln Therapeuten in Gruppensitzungen. Bei manchen Patienten kann eine ambulante Einzelpsychotherapie notwendig werden, zum Beispiel wenn sie zusätzlich eine psychische Erkrankung haben. Jeder Fünfte mit schwerer Adipositas leidet an Depression, mehr als jeder Dritte an einer Essstörung und jeder Zwölfte an einer Angsterkrankung, ergab eine Studie des Uniklinikums Tübingen. „Hat eine solche Erkrankung das Übergewicht begünstigt, dann muss sie zuerst behandelt werden. Oft ist erst dann die reguläre Adipositasbehandlung wirksam“, sagt Mediziner Martin Teufel.
Risiko für Depression erhöht
Seelische Probleme können auch Folge des Übergewichts sein. Das Risiko, an einer Depression zu erkranken, ist bei Menschen mit Adipositas deutlich erhöht. „Die Betroffenen werden ausgegrenzt, fühlen sich herabgewürdigt, haben geringere Chancen, Partner, Freunde oder einen Job zu finden. Das kann Depressionen auslösen oder sie verfestigen“, sagt Psychologin Hilbert.
Dann ist eine reguläre Psychotherapie notwendig. Die Betroffenen sind antriebsarm, ziehen sich zurück, manche deckeln negative Gefühle mit Essen. Diese Symptome zu behandeln, kann auch die körperliche Verfassung verbessern.
Tipp: Die Patientenleitlinie Adipositas empfiehlt, sich einer Selbsthilfegruppe anzuschließen. Eine Datenbank finden Sie auf adipositashilfe-deutschland.de.
Adipositas behandeln: Wer was bezahlt
Wo Sie Informationen zu Kosten und Praxen finden.
Suchen Sie ein Modellprojekt
Das ganze Paket – Ernährungs- und Bewegungs- und Psychotherapie – bezuschussen die Kassen meist nur nach Einzelfallprüfung oder im Rahmen von Modellprojekten. Einen Teil müssen Versicherte oft selbst tragen. Das gilt auch für Medikamente und Magen-OPs.
Tipp: Fragen Sie bei Ihrer Kasse nach, ob sie sich an einem Modellprojekt beteiligt, ob sie die Kosten übernimmt oder Zuschüsse zahlt.
Psychische Krankheit behandeln
Eine Psychotherapie zahlt die Kasse, falls eine psychische Erkrankung vorliegt, die mit der Fettleibigkeit in Verbindung steht. Jedem Versicherten steht innerhalb von vier Wochen ein Termin in einer psychotherapeutischen Sprechstunde zu (alle Infos zu allen Kassen im Vergleich Krankenkassen auf test.de).
Tipp: Die Terminservicestellen der Kassenärztlichen Vereinigung vermitteln Termine in der Umgebung (siehe kbv.de, Suchwort „Terminservicestelle“). Unter niedergelassenen Psychotherapeuten gibt es Experten, die auf Übergewicht spezialisiert sind. Auch spezielle Kliniken können helfen.
Adipositas behandeln: Die Kombi machts
Psychotherapie allein reicht nicht. Ernährungsberatung und Bewegungstraining gehören zur Therapie von starkem Übergewicht dazu.
Ander(e)s essen

Weniger Kalorien zu sich zu nehmen, ist das Kernziel der Ernährungsberatung. Der Patient erkennt seine Essgewohnheiten, ändert sie schrittweise. Gemeinsam mit den Patienten erstellt der Berater einen Ernährungsplan, der dauerhaft im Alltag umgesetzt werden kann. Beide suchen zusammen Alternativen zu sehr kalorienreichen, zuckerhaltigen oder fettigen Produkten. Wichtig sind auch regelmäßige Mahlzeiten und bewusst zu essen, also ohne Ablenkung durch Fernsehen oder Computer.
In Gang kommen

Um den Kalorienverbrauch zu steigern, ist Bewegung unerlässlich. Der Alltag bietet Möglichkeiten dafür, sei es, die Treppen statt den Fahrstuhl zu nehmen oder ein Stück Arbeitsweg zu laufen, statt alles mit der Bahn zu fahren. Sport findet zunächst in kürzeren und weniger intensiven Einheiten statt, oft in der Gruppe. Gut sind gelenkschonende Aktivitäten wie Schwimmen oder Walken.
Innere Kraft finden

Verhaltenstherapeutische Elemente können Patienten dabei unterstützen, die Veränderungen in Ernährung und Bewegung umzusetzen und vor allem beizubehalten. Oftmals lassen sich damit die Fortschritte in Ernährungs- und Bewegungstherapie festigen. Manchmal hilft Psychotherapie dabei, überhaupt erst die Motivation zu Sport oder Ernährungsumstellung zu wecken. Erkrankungen wie Depressionen, Ess- oder Angststörungen, die Adipositas mitbedingen oder Folge davon sind, können in einer Psychotherapie bearbeitet werden.
Pillen als Stütze

Um das Abnehmen zu unterstützen, verordnen Ärzte teilweise auch Medikamente. Sie können helfen, ersetzen aber nicht die Ernährungsumstellung und mehr Bewegung. Die Arzneimittelexperten der Stiftung Warentest bewerten die Mittel bestenfalls als „mit Einschränkung geeignet“. Amphetamine, mitunter zum Appetitzügeln verschrieben, stufen sie als „wenig geeignet“ ein, ebenso verschiedene rezeptfreie Mittel. Mehr Informationen dazu finden Sie im Artikel Schlankheitsmittel.
Letzte Option OP

Wurden alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft und liegt der Body-Mass-Index (BMI) über 40, kann eine Operation am Magen in Erwägung gezogen werden. Die ist auch bei Patienten mit BMI ab 35 möglich, wenn sie bereits unter einer oder mehreren Folgeerkrankungen leiden. Bedingung für eine Operation ist, dass die Patienten psychisch stabil sind. Anschließend ist eine mehrjährige Nachbetreuung mit oben genannten Therapieelementen notwendig.
*Wert korrigiert am 15.1.2020.
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